Das Boot ist voll


und 10 weitere Dialoge zu Ethik und Globalisierung
mit Kaiser und König


Einleitung

Herr Kaiser und Herr König schätzen einander durchaus, obwohl sie in so gut wie keinem Punkt derselben Meinung sind. Es treffen hier nicht nur verschiedene Überzeugungen, sondern vor allem verschiedene Temperamente aufeinander: Herr Kaiser, weltläufiger Geschäftsmann in einer womöglich etwas windigen Branche, neigt zur Großzügigkeit, auch ein bisschen zum Großspurigen. Herr König, Lehrer am Gymnasium, kennt die Welt eher aus der Zeitung (aber das gründlich!), legt Wert auf Genauigkeit und kann zuweilen pedantisch wirken. Es dauert selten lang, bis sich aus einem ganz alltäglichen Anlass, einem scheinbar harmlosen Reisemitbringsel zum Beispiel, ein Gespräch über grundsätzliche Dinge ergibt.

Die elf Dialoge dienen dazu, das Bewusstsein für Probleme einer zunehmend globalisierten Welt zu wecken und zu schärfen. Wichtig ist, dass es sich tatsächlich um Probleme handelt, das heißt, um strittige Fragen, die sich auf verschiedene Weise beantworten lassen und die Gestalt des Dilemmas annehmen können: Es geht nicht darum, sie zu lösen, sondern sie von unterschiedlichen und widersprüchlichen Seiten zu zeigen. Zum Beispiel steht der Verurteilung der Kinderarbeit die Überlegung entgegen, dass Kinderarbeit auch eine Form der Ausbildung und der Solidarität innerhalb des gemeinsam wirtschaftenden Familienverbands sein könnte. Die Dialoge enden darum durchweg offen. Die scharfe Zuspitzung zum Ende hin und der unentschiedene Ausgang fordern die Zuhörer heraus, das Gespräch weiterzuführen. Die charakterliche Differenz der Dialogpartner und die häufige affektive Aufladung im Verlauf des Gesprächs sollen den spontanen Zugang erleichtern.

Das Begleitheft bietet den Wortlaut der Dialoge, einen Kommentar (der das jeweils behandelte Problem erläutert und die Argumentationsmuster der Kontrahenten darlegt), Leitfragen (Vorschläge zum Einstieg für den Kurs/die Klasse), sowie ausgewählte Weblinks zu Hintergrundinformationen.

SO KLEINE HÄNDE

Kaiser: Herr König, gut, dass ich Sie treffe! Ich hab Ihnen nämlich was von meinem Urlaub in Marokko mitgebracht. Ein Souvenir! Klein aber fein!
König: Was ist denn das??
Kaiser: Das sehen Sie doch. Ein Schälchen zum Händewaschen aus getriebenem Kupfer. Äußerst geschmackvoll gearbeitet.
König: Äußerst.
Kaiser: Und reine Handarbeit. Ich habe selber in den Soukhs zugeschaut, wie es hergestellt worden ist. Da hat jeder Handwerker so seine kleine Nische, da sitzt er drin mit seinem Hämmerchen und hämmert drauflos. Aber da sitzt jeder Schlag präzise! Da braucht man schon kleine Hände.
König: Kleine Hände? Wie meinen Sie das?
Kaiser: Also die ganz kleinen Details, das schafft ein Erwachsener gar nicht.
König: Ein Erwachsener? Sie wollen mir doch wohl nicht sagen, dass Sie ein Stück Kinderarbeit gekauft haben?
Kaiser: Kinderarbeit! Wie sich das schon wieder anhört bei Ihnen! Als wären das kleine Sklaven. Wissen Sie, wie das aussieht? In jedem von diesen Kabuffs sitzt der Sohn mit dem Papa, sie werkeln zusammen, sie trinken Tee, sie lachen …
König: Und wie alt sind Ihre Kinder?
Kaiser: Na, so sechs oder acht Jahre, würde ich sagen.
König: Ein Idyll, Herr Kaiser! Haben Sie mal dran gedacht, dass Kinder in diesem Alter in die Schule gehören? Die haben doch noch nichts bei der Arbeit verloren! Die kriegen doch ihr ganzes Leben keine Chance mehr auf eine Ausbildung!
Kaiser: Aber das ist doch ihre Ausbildung. Die sind ja jetzt schon fast perfekte Kupferschmiede.
König: Ja, perfekte Kupferschmiede, die nicht lesen und schreiben können! Eine totale Sackgasse.
Kaiser: Wieso Sackgasse? Der Sohn lernt es vom Papa und gibt es weiter an seine eigenen Kinder. Da haben Sie doch eine ganz starke Kontinuität in der Familie. Da trägt jeder sein Teil bei, die Jungen und die Alten – nicht wie bei uns, wo die studierten Kinderlein bis 28 im Hotel Mama wohnen und sich von vorne und hinten bedienen lassen.
König: Aber Sie wissen schon, Herr Kaiser, dass die Kinder in Pakistan von ihren Eltern an die Teppichfabriken verkauft werden, damit sie vierzehn Stunden am Tag schuften, und zwar an den Webstuhl angekettet.
Kaiser: Wir sprechen nicht von Pakistan, Herr König, wir sprechen von den Soukhs in Marrakesch. Und da habe ich selbst gesehen, wie eine solidarische Familie läuft. Bei uns gibt es bloß lauter egoistisches Gequassel vom Generationenvertrag. Dort funktioniert er!
König: Klar, wenn Sie den Leuten minimale Löhne zahlen, wenn es keine Rente gibt, keine Versicherung, kein Hartz IV, dann bleibt einem außer der Familie nicht viel übrig. Und dann müssen eben auch die Kinder ran und arbeiten, sobald sie auf zwei Beinen stehen können. Die haben überhaupt keine Alternative. Ein Kupferschmied zeugt einen Kupferschmied zeugt einen Kupferschmied. Was hatte Ihr Vater gleich noch mal für einen Beruf?
Kaiser: Der war bei Bosch am Band.
König: Und Sie? Sie sind Bauleiter und Unternehmensberater.
Kaiser: Und kein schlechter, will ich meinen!
König: Hätten Sie Lust gehabt, zu Bosch ans Band zu gehen und ihr Lebtag Zündkerzen zu montieren, bloß weil Ihr Papa das auch schon gemacht hat?
Kaiser: Herr König, hier sieht man mal wieder Ihre westliche Arroganz. Weil bei uns alles übers Schulamt und Arbeitsamt und Sozialamt geht, meinen Sie, das muss überall auf der Welt so sein. Glauben Sie, die Leute sind bei uns glücklicher? Die Kinder in Marrakesch lachen den ganzen Tag und freuen sich, wenn sie ein Bonbon kriegen.
König: So, für die Kinder in Marrakesch ein Bonbon und für den Herrn Kaiser aus Germany ein Viergänge-Menü und zum Nachtisch Eis mit Sahne im Hotel. Wenn das keine multikulturelle Toleranz ist!
Kaiser: Aber wenn eben heute die Welt so ist! Ich schade doch keinem von denen, ich nutze ihnen sogar, wenn ich ihnen ihre schönen Schälchen abkaufe. Da brauche ich doch kein schlechtes Gewissen zu haben!
König: Sie bestimmt nicht, Herr Kaiser.

Hinweise

Kinderarbeit ist besonders geeignet, die Frage zu beleuchten, ob die sogenannten westlichen Werte universale Geltung besitzen oder aber bestenfalls eine Art höherer Kirchturmpolitik, schlimmstenfalls ein Werkzeug zur Abwertung und Unterdrückung fremder Kulturen darstellen. Unzweideutige und keinesfalls zu rechtfertigende Formen der Ausbeutung (Ankettung an Webstühle) werden vorab ausgeklammert; es geht vielmehr um das Prinzip, ob Kinder überhaupt arbeiten sollten. Kaiser vertritt dabei den Standpunkt der Differenz, König den der Universalität.
Kaiser beginnt den Dialog noch ganz in der Verzauberung des Touristen, der im Ausland war. Er ist fasziniert von der Fröhlichkeit des engen Zusammenwirkens innerhalb der Familie und vom Traditionsbewusstsein, das den Handwerksberuf vom Vater auf den Sohn vererbt. Er sieht hier den Generationenvertrag, der bei uns nur auf der Grundlage staatlicher Vermittlung durch die Sozialkassen funktioniert, privat und spontan am Werk. Er verteidigt den Grundsatz »Andere Länder, andere Sitten«.
König wirft ihm seinen Relativismus vor: Unter dem Vorwand, die anderen sein zu lassen, wie sie sind, wolle er in Wirklichkeit das erhebliche soziale und ökonomische Gefälle zwischen Erster und Dritter Welt beschönigen. Beweis: Kaiser wäre nie mit dem Lebensstandard dieser Länder zufrieden! Mangel an Absicherung, soziale Immobilität, Mangel an schulischer Bildung usw. akzeptiere Kaiser nur für die Anderen, nicht für sich selbst.
Kaiser behält zum Schluss ein gewisses Über-gewicht, indem er darauf hinweist, dass a) die Welt in ihrer Vielfalt sich nicht durch humanitäres Edikt ändern lasse und b) er der ökonomischen Situation des Familienverbands durch seinen Kauf zwar bloß wenig, aber immerhin real geholfen habe.

Leitfragen

  • Wisst ihr, welche Produkte durch Kinderarbeit hergestellt sein können?
  • Habt Ihr als Kind arbeiten müssen, oder kennt Ihr Kinder, die arbeiten? Was machen sie? Kriegen sie Lohn oder nicht?
  • Könnt Ihr Euch vorstellen, dass es einem Kind Spaß macht, zu arbeiten?
  • Wie lang sollte ein Kind mindestens zur Schule gehen? Was sollte es unbedingt lernen? Warum?
  • Worauf sollte eine Familie eher achten: dass die Familien-Traditionen weiterleben, oder dass die Kinder die Chance haben, Karriere zu machen?
  • Hätte Kaiser das Schälchen kaufen dürfen, das von einem Kind hergestellt worden ist?

Links

Schwerpunkt Kinderarbeit bei Terre des Hommes
Kampagnenwebseite Aktiv gegen Kinderarbeit
UNICEF-Aktionswebseite Stoppt Ausbeutung

WER BRAUCHT SCHON KROKODILE?

König: Was haben Sie denn da für ein schönes Tier auf Ihrer Hemdbrust, Herr Kaiser? Sollte es sich vielleicht gar um ein Krokodil handeln? Was lacostet die Welt und so?
Kaiser: Nur keinen Neid, Herr König. Wer hat, der hat eben.
König: Mein Gott, Herr Kaiser, ich erblasse vor Ehrfurcht.
Kaiser: Ich will Ihnen ein kleines Geheimnis verraten, Herr König. Ich war auf Geschäftsreise in der Türkei, und an einem freien Nachmittag habe ich auf dem Markt ein ganzes Bündel Hemden mit dem Krokodil entdeckt, zu einem Preis, zu dem ich nicht nein sagen konnte.
König: Sie wollen mir doch hoffentlich nicht sagen, dass sie sehenden Auges ein betrügerisch gefälschtes Markenprodukt erworben haben, Herr Kaiser!
Kaiser: So würde ich es nicht formulieren.
König: Wie würden Sie es denn dann formulieren?
Kaiser: Wer wird denn hier betrogen? Die Kunden wissen doch schon, was sie da kaufen. Die Qualität stimmt, der Preis dafür stimmt auch. Und wenn die Pariser Modeschöpfer denselben Ramsch für das Zehnfache verkaufen und 90% vom Erlös als Reingewinn einbehalten, bloß weil sie da vorn so ein kleines Tier draufgenäht haben, dann sind doch wohl die die Betrüger!
König: Von Markenschutz und geistigem Eigentum haben Sie wohl noch nie was gehört?
Kaiser: Geistiges Eigentum? Da lachen ja die Hühner! Wo steckt denn der Geist bei diesem Krokodil?
König: Stellen Sie sich doch mal vor, ein Pharma-Konzern entwickelt zehn Jahre lang ein neues Medikament für eine Krankheit, die bisher nicht behandelt werden konnte. Dann stiehlt ihnen jemand das Rezept und verkauft dasselbe Medikament für ein Viertel und kassiert dabei immer noch mehr Gewinn als die Firma, die es erfunden hat. Finden sie das in Ordnung?
Kaiser: Das kann man doch nicht vergleichen! Glauben Sie im Ernst, jemand hat zehn Jahre lang dieses Hemd entwickelt? Die Fabriken in Bangla Desh schneidern doch genau das gleiche Hemd für genau die gleichen Hungerlöhne, bloß ohne Tierchen, und verkaufen es für einen Bruchteil des Preises über andere Kanäle.
König: Wenn das keinen Unterschied macht, warum kaufen Sie sich dann überhaupt ein Hemd mit Krokodil, selbst wenn Sie wissen, dass es ein falsches Krokodil ist?
Kaiser: Ja, Herr Kaiser, das macht eben doch was her! Und schließlich wissen jetzt bloß Sie, dass das Krokodil falsch ist. Sie können doch schweigen?
König: Wie ein Grab, Herr Kaiser, wie ein Grab. Aber auch die andern sehen auf Anhieb, dass Sie ein wenig zur Angeberei neigen.
Kaiser: Sie wissen doch, Herr König, wer angibt, hat mehr vom Leben.
König: Ja, Herr Kaiser, so sind Sie halt.
Kaiser: So bin ich nicht! (Ratschendes Geräusch) Hier, bitte!
König: Sie haben sich das Krokodil vom Herzen gerissen!
Kaiser: Ja, und jetzt habe ich ein ganz ehrliches Hemd, das genau so viel kostet wie es wert ist und nicht tut, als wenn es mehr gekostet hätte. Wer braucht schon Krokodile?
König: Ja, eigentlich braucht die niemand.

Hinweise

Der Dialog zentriert eine Reihe unterschiedlicher, doch inhaltlich zusammenhängender Probleme um das Thema der Textilindustrie: die Fragen des geistigen bzw. Marken-Eigentums; die geradezu abergläubische Hochschätzung eines Markennamens, die die Beziehung zur Produktqualität verloren hat und darum zu Missbräuchen einlädt; und wenigstens in angedeuteter Form die Ausbeutung der Textilarbeiter in der Dritten Welt.
Veranlasst wird das Gespräch vom Logo des Lacoste-Krokodils, das Kaiser auf seinem T-Shirt trägt. Aus der Neckerei gegen den »Angeber« erwächst, als Kaiser augenzwinkernd einräumt, es handle sich um eine Markenfälschung, eine Diskussion darum, wer hier wen betrüge:
Der Händler den Kunden? Wohl kaum, denn der weiß Bescheid und macht ein Geschäft.
Der Träger seine soziale Gruppe? Er spiegelt ihr einen ökonomischen Status vor (»Wer angibt, hat mehr vom Leben«), den er sich wenigstens hier nicht verdient hat.
Der Fälscher den Produzenten? Dies wird von Kaiser bestritten, der auf die absurd hohen Gewinnspannen beim Original verweist, die durch keine Qualität gedeckt sind.
Die Firma, die das Trademark vertreibt, den Arbeiter, der das Hemd näht? Dies wird nicht ausdrücklich behauptet, obwohl sich die Kontrahenten hierüber stillschweigend einig sind.
1. und 2. werden auf humoristische Weise als zuletzt irrelevant abgetan, 4. wird nicht weiter diskutiert.
Die Diskussion konzentriert sich auf 3. Dass ein bloßer Markenname, der sich im Logo beglaubigt, den Schutz als »geistiges Eigentum« verdiene, weist Kaiser wütend zurück, da hier kein Aufwand der Entwicklung und kein Nutzen für die Menschheit erkennbar sei, sondern nur der Egoismus des Kapitalsubjekts seine Machtmittel spielen lasse. Der überraschende komisch-pathetische Verzichtakt Kaisers zum Schluss entspricht der von Noemi Klein angestoßenen »No-Logo«-Kampagne.

Leitfragen

  • Sind bestimmte Markennamen bei der Kleidung für Euch wichtig? Warum?
  • In englischen Internaten und anderswo gibt es Schuluniformen, nicht zuletzt, um den unterschiedlichen Wohlstand der Schüler wenigstens bei der Kleidung unsichtbar zu machen. Findet Ihr das in Ordnung?
  • Würdet Ihr gefälschte Markenprodukte (Lacoste, Rolex) kaufen? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?
  • Was wisst ihr über die Produktionsbedingungen in der Bekleidungsindustrie?
  • Früher wurde Kleidung auch in Deutschland hergestellt. Warum geht das heutzutage eurer Meinung nach nicht mehr?
  • Markenschutz und Schutz des geistigen Eigentums spielen in der Diskussion ja gegenwärtig eine große Rolle. Gibt es für Euch einen Unterschied, ob jemand schwarz einen Film aus dem Internet herunterlädt, ein gefälschtes Markenhemd kauft oder ohne Lizenz Medikamente nachmacht?

Links

Zum Thema Kleidungsproduktion:
Kampagne für Saubere Kleidung
Erklärung von Bern - Themenschwerpunkt Kampagne für Saubere Kleidung
INKOTA Netzwerk e.V. - Themenschwerpunkt Kampagne für Saubere Kleidung www.inkota.de/themen-amp-kampagnen/soziale-verpflichtung-fuer-unternehmen/kampagne-fuer-saubere-kleidung
Südwind Institut
www.sozialstandards-im-welthandel/textilien
Zum Thema geistiges Eigentum:
Webseite über geistiges Eigentum
Webseite der internationalen Handelskammer über Marken- und Produktpiraterie

EINE SCHLEIERHAFTE GESCHICHTE

Kaiser: Es geht doch nichts über eine gepflegte Currywurst an der Imbissbude!
König: Ja, Herr Kaiser, da muss ich Ihnen ausnahmsweise mal recht geben. Dauert zehn Minuten, und die Leute am Busbahnhof angucken kann man auch noch.
Kaiser: Gucken Sie mal die da vorn!
König: Wer? Was?
Kaiser: Na, die rabenschwarze Suleika da.
König: Herr Kaiser, hat Ihnen keiner als Kind beigebracht, dass man nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute zeigt?
Kaiser: Angezogen ist gar kein Ausdruck! Die ist vollverkleidet wie ein Formel-1-Flitzer.
König: Bloß ein bisschen langsamer, mit ihrem Kinderwagen.
Kaiser: Ich finde, die sieht richtig gruselig aus. Wie ein Gespenst im Bettlaken. Müssen die hier unbedingt so rumlaufen?
König: Ja und, Herr Kaiser, was stört Sie daran?
Kaiser: Wenn die zu uns herkommen, dann sollen die sich gefälligst nach uns richten. Wenn mich jemand in meiner Wohnung besucht, dann läuft das auch nach meinen Regeln, und wenn ihm das nicht passt, kann er bleiben wo der Pfeffer wächst.
König: Und der Busbahnhof hier, das ist Ihr Wohnzimmer?
Kaiser: In gewissem Sinn schon. Wir sind hier in Mitteleuropa.
König: In Ihrem Wohnzimmer würden Sie bestimmt keine dreckigen Plastikgabeln auf den Boden werfen.
Kaiser: Was ich mit meiner Gabel tue, das geht Sie mit Verlaub einen feuchten Kehricht an.
König: Die Frau da stört doch keinen, jedenfalls bedeutend weniger als Ihr sorgloser Umgang mit dem Müll. Wollen Sie der vielleicht verbieten, sich so anzuziehen, wie sie mag?
Kaiser: Ja, ich finde, solche Klamotten gehören verboten.
König: Wir befinden uns hier im öffentlichen Raum, Herr Kaiser. Da gilt die Regel: Verboten ist nur, was die anderen behindert oder gefährdet.
Kaiser: Oder beleidigt!
König: Ihr scheußliches türkisenes T-Shirt, das sich über dem Bauch spannt, beleidigt mich auch, Herr Kaiser. Aber ich dulde es, weil das Ihre Privatangelegenheit ist und niemanden schädigt außer Ihnen selbst. Also: In welcher Hinsicht wären Sie von der Kleidung dieser Frau behindert oder gefährdet?
Kaiser: Wer spricht denn von mir, Herr König! Denken Sie doch mal, was das für die arme Frau bedeutet, in so einem Aufzug herumlaufen zu müssen. Das ist doch Unterdrückung pur!
König: Vielleicht fühlt sich die Frau ja gar nicht unterdrückt. Bevor Sie so was behaupten, gehen Sie doch mal hin und fragen sie!
Kaiser: Die darf bestimmt nicht mit fremden Männern reden. Das bringt doch nichts.
König: Also, Sie wissen gar nichts von der, wollen auch nichts wissen, aber die Freiheit wollen Sie ihr bringen!
Kaiser: Ja klar! Die müssen sich dran gewöhnen, dass bei uns Frauen dieselben Rechte haben wie die Männer.
König: Also die Freiheit für diese Frau geht damit los, dass Herr Kaiser ihr was verbietet. Und wenn Sie gar nicht frei sein möchte? He?
Kaiser: Das kann man doch gar nicht als Einzelfall lösen. Hier ist die Gesellschaft als Ganzes in der Pflicht! Diese Strukturen wurzeln doch tief in den Familien.
König: Haargenau, Herr Kaiser. Und wie kommt man da rein? Wollen Sie jeden morgen um acht bei den Özdemirs klingeln und nachschauen, ob die Frauen des Hauses sich auch anständig anziehen? Da wären auf einmal wir im fremden Wohnzimmer, ach was, im Schlafzimmer!
Kaiser: Schauen Sie sich den Aufzug doch mal an! Damit können Sie sich ja überhaupt nicht vernünftig bewegen. Das ist doch wie eine Fessel. Das geht vielleicht in Anatolien, aber nicht bei uns.
König: Ich denke mal, grade in Anatolien geht das nicht. Da müssen die Frauen mit aufs Feld, und dabei kann man keine Burka brauchen. Vielleicht will sie uns ja gerade das zeigen: Mein Mann verdient genug, ich kann es mir leisten, nicht zu arbeiten. Vielleicht ist es ein Statussymbol.
Kaiser: Der Nerz der Muslima!
Frau: Entschuldigung, können Sie mir sagen, welchen Bus ich zum Kornmarkt nehmen muss?
Kaiser und König (gleichzeitig): Die 19! / Die 26!
Frau: Vielen Dank die Herren!

Hinweise

Kopftuch und Verschleierung der muslimischen Frauen gehören zu den sichtbarsten Abzeichen des »Fremden« in Europa und besitzen daher besondere symbolische Bedeutung, wenn es darum geht, inwieweit die Anderen ihre Eigenart behaupten dürfen oder sich anpassen sollten. Kaiser vertritt die assimilatorische, König die tolerante Position. Die Diskussion nimmt folgenden Verlauf:
Kaiser nimmt spontan am Anblick der Verschleierung als an etwas Fremdem Anstoß und behauptet das normative Recht der aufnehmenden Nation bei Fragen der persönlichen Lebensführung. Sein Paradigma stellt das Hausrecht (»Wohnzimmer«) dar, dem er gegenüber dem Gastrecht Vorrang zubilligt.
König erklärt das Oppositionspaar Hausrecht/Gastrecht für irrelevant und ersetzt es durch das andere öffentlich/privat (wobei er darauf hinweist, dass auch Kaiser sehr wohl zwischen privatem und öffentlichem Raum trennt: Motiv der weggeschmissenen Plastikgabel).
Er präzisiert auf Kaisers Widerspruch hin: Alles sei erlaubt, was nicht einen Anderen behindert oder gefährdet, und lehnt das Kriterium der bloßen empfundenen Belästigung nachdrücklich ab.
Kaiser eröffnet daraufhin unvermittelt das Thema der Unterdrückung der Frau, die sich in der Kleidung äußere, und verlangt, dass die Gleichberechtigung auch innerhalb der Gruppen mit Migrationshintergrund von Staats wegen erzwungen werden sollte.
König stellt fest, dass der Staat diese ideale Freiheit nur durch polizeiliche Intervention herstellen könnte, also durch realen Zwang: was widersinnig ist.
Und er weist auf die Mehrdeutigkeit der Kleiderregeln hin, die ebenso sehr ausdrücken, dass die Frau keine Funktion in der Arbeitswelt übernehmen kann, wie, dass sie es nicht muss – also Ausdruck des Wohlstands der Familie ist.
Die überraschende Wortmeldung der Frau macht kenntlich, wie wenig in dieser ganzen Kontroverse über die islamische Frau tatsächlich mit ihr gesprochen worden ist: Vielleicht sind ja die, die sie gegen ihre Ehemänner verteidigen, ebensolche Paschas wie die Ehemänner selbst?

Leitfragen

  • Habt Ihr in letzter Zeit mal eine Frau mit Kopftuch oder Körperschleier gesehen?
  • Wie wirkt das auf Euch? Stört es Euch? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?
  • Findet Ihr, dass es Unterschiede gibt zwischen Kopftuch und Ganzkörper-Verschleierung?
  • Findet Ihr, dass diese Kleidung ein Zeichen für die Unterdrückung der Frau ist?
  • Wenn ja – sollte man das verbieten? Und wie könnte man das Verbot durchsetzen?
  • Wenn eine Muslima Euch sagt, dass sie dieses Kopftuch/diesen Schleier selber gewählt hat, was würdet Ihr antworten?
  • König sagt zu Kaiser, man zeige nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute. Was meint er damit?

Links

www.serap-cileli.de/kopftuch_broschuere-berlin-08.pdf
Kopftuchdebatte auf qantara.de

HAUPTSACHE CLEAN

Kaiser: Herr König, was machen Sie denn für ein Gesicht? Sie sehen ja aus wie drei Tage Regenwetter.
König: Ich rege mich ja sonst immer auf, wenn die Schüler rumzappeln und nicht stillsitzen können. Aber jetzt habe ich drei in der Elften, die können überhaupt nicht mehr aus der Wäsche gucken.
Kaiser: Wie – Wäsche gucken?
König: Rote Augen, sage ich bloß. Nicht ansprechbar. Lahm wie Schlaftabletten. Die kiffen jeden Tag. Mit den Eltern sprechen bringt auch nichts, die haben ihre eigenen Probleme. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.
Kaiser: Was wollen Sie denn auch machen? Sobald die aus dem Klassenzimmer raus sind, betrifft Sie das doch gar nicht mehr. Das sind doch freie Menschen.
König: Freie Menschen? Wollen Sie zulassen, dass die sich mit sechzehn die Seele aus dem Leib kiffen? Irgendwie scheint das keinen mehr zu stören. Dabei ist das Zeug verboten.
Kaiser: Klar, das ist seit hundert Jahren verboten. Und was hat’s genützt? Sie sehen selbst, dass sogar die Kinder an das Zeug rankommen.
König: Das ist ja das Unglück! Wozu haben wir die Polizei? Wozu gibt es Gerichte?
Kaiser: Das frage ich mich schon lang. Da heißt es immer in den Medien: Riesiger Fahn-dungserfolg, hundert Kilo Kokain sichergestellt. Dabei kommen im selben Augenblick zehn Tonnen in Kondomen und Radkappen über die Grenze und sind schon verschnupft, bevor die Sonderkommission pieps sagen kann. Statt dass endlich mal den Autoknackern das Handwerk gelegt würde!
König: Wollen Sie solche Kriminellen einfach laufen lassen, bloß weil das eine extrafreche Bagage ist?
Kaiser: Herr König, wo leben Sie! Haben Sie eine Ahnung, was das Drogengeschäft weltweit für einen Umfang hat? Allein in Mexiko sind letztes Jahr zwanzig Milliarden Dollar umgesetzt worden, habe ich gelesen.
König: Ja, und zehntausend Menschen sind dabei umgebracht worden.
Kaiser: Das ist es ja! Die sterben bloß, weil es verboten ist. Die Drogenkartelle ballern auf die Polizei und machen sich gegenseitig nieder, die Regierung schickt die Armee, und es gibt noch mehr Tote. Mit der Verbieterei ändern sie da gar nichts, solang es bei uns genug Leute gibt, die das Zeug kaufen.
König: Und deswegen soll der Staat das einfach ignorieren? Das ist ja, als würde er seine Bürger selbst ins Unglück stürzen!
Kaiser: Tut er doch längst. Durch Tabak und Alkohol sterben mehr Menschen als durch die sogenannten Drogen. Aber Tabak und Alkohol sind nicht nur legal, da verdient der Staat sogar noch kräftig an den Steuern mit.
König: Verstehe ich Sie recht, Herr Kaiser, dass Sie die Besteuerung von Kokain und Marihuana vorschlagen? Das wäre ja wohl der Gipfel der Verantwortungslosigkeit!
Kaiser: Wieso? Da können Sie als User Ihr Päckchen beim Apotheker kaufen, alles ganz sauber und hygienisch, ohne Dealer, ohne Feuergefechte, alles ganz clean und ungefährlich. Und dann schreiben wir drauf: »Warnung! Kokain zerstört Ihre Nasescheidewand!« Das geht dann raus so für zehn Euro pro Portion.
König: Und wer kriegt das Geld?
Kaiser: Na ich schlage vor: Ein Euro für den Kokabauern in Bolivien, ein Euro für den Chemiker, der das weiße Pulver draus macht, ein Euro für den Apotheker und sieben für die Staatskasse. Davon können wir jede Menge Therapieplätze bezahlen und vielleicht sogar noch ein paar Kilometer Autobahn.
König: Herr Kaiser, Sie sind ein schlimmerer Zyniker, als ich gedacht habe.

Hinweise

Rauschgift gehört zweifellos zu den am rasantesten zirkulierenden Gütern der globalisierten Ökonomie. Noch besteht ein internationaler Konsens darüber, dass es schlechterdings unterbunden werden sollte. Die Diskussion hierüber sollte sorgfältig zwei Punkte trennen:
Welchen Schaden stiftet das Rauschgift? Ist er so schlimm, dass es unbedingt verboten werden muss?
Welchen Schaden stiftet das Verbot des Rauschgifts? Womöglich mehr als das Rauschgift selbst?
Kaiser spricht sich nicht nur für die Legalisierung von Rauschgift aus (eine Unterscheidung zwischen leichten und schweren Drogen wird nicht gemacht), sondern geradezu für eine staatliche Verwaltung des Drogenwesens nach dem Vorbild der amerikanischen »Liquor Stores«. Er argumentiert folgendermaßen für die Legalisierung:
Erwachsenen Menschen sollte man möglichst wenig verbieten (für ihn sind Sechzehnjährige erwachsen).
Verbote nützen nichts, der Bedarf bleibt.
Die unerfreulichen Umstände der Drogen-Ökonomie z.B. in Mexiko, die vielen Morde etc., verdanken sich nur dem Umstand, dass der Drogenhandel verboten ist.
Der sinnlose Krieg gegen die Drogen bindet polizeiliche Kräfte, die anderswo dringender benötigt würden. (Kaisers parteiisches Beispiel: Autoknacker!)
Wenn es schon Drogen geben muss, ist es besser, der Staat verdient daran und stellt aus diesen Einnahmen eine gewisse verlässliche Infrastruktur her, die tödliche Hepatitis etc. ausschließt, als er verliert viel Geld in einem Kampf, den er nicht gewinnen kann.
König argumentiert folgendermaßen gegen die Legalisierung:
Er sieht, wie bestimmte Drogen das intellektuelle und sonstige Leistungsvermögen seiner Schüler schwächen; sie sind dabei weder frei noch mündig.
Ein Verbrechen hört nicht auf, ein solches zu sein, bloß weil es in der Praxis oft verübt wird.
Der Staat sollte sich unter keine Umständen zum Komplizen der gesundheitlichen Beschädigung seiner Bürger machen. Wenn er den Tabakskonsum besteuert, sollte das nicht das Vorbild abgeben, auch Kokain zu besteuern, sondern nachdenklich machen, ob man nicht auch den Tabak verbieten müsste.
Der Dialog endet nicht völlig unentschieden, sondern gibt der Forderung, Rauschgift solle erlaubt und versteuert werden, zum Schluss ein gewisses Übergewicht. Das scheint angesichts der nach wie vor strengen Rauschgift-Gesetzgebung in diesem Fall zulässig; mindestens dürfte es die Diskussion anspornen.

Leitfragen

  • Wisst ihr, aus welchen Ländern Drogen herkommen?
  • Was meint Ihr, schaden Drogen? Welche mehr und wie? Welche weniger?
  • Sollten Drogen legalisiert werden? Und wenn der Staat sie genehmigt: Sollte er Steuern darauf erheben?
  • Der Staat duldet und besteuert Alkohol und Nikotin. Beide führen jedes Jahr zum Tod vieler Menschen. Sollte er sie verbieten? Oder was sonst?
  • Kaiser und König sprechen davon, dass sich die mexikanische Gesellschaft aufgrund der illegalen Drogengeschäfte in einem Exzess von Gewalt auflöst. Wie könnte man da für Besserung sorgen?
  • Hat ein Mensch das Recht, sich selbst zugrundezurichten?
  • In Bolivien wurde ein ehemaliger Koka-Bauer Staatspräsident. Er sprach davon, dass viele Bauern Kokapflanzen anbauen müssen, um überhaupt überleben zu können. Was haltet Ihr von dieser Aussage?

Links

Hintergründe zur Drogenkriminalität
Die Geschichte der Coca-Pflanze
Entwicklungsorientierte Drogenpolitik

DIE NATUR DES BORKENKÄFERS

Kaiser: Das ist ja mal wieder typisch!
König: Was denn, Herr Kaiser?
Kaiser: Da hat es damals geheißen, wir gründen einen Naturpark Bayerischer Wald. Keine menschlichen Eingriffe mehr! Unberührbar für alle Zeiten! Reinrassiger Urwald! Und kaum macht der Urwald das kleinste Problemchen, sind alle guten Vorsätze vergessen.
König: Wer macht Problemchen?
Kaiser: Der Borkenkäfer!
König: Der Borkenkäfer?
Kaiser: Wenn ich’s Ihnen doch sage. Es stellt sich heraus, dass das ganze herumliegende Totholz dort, das keiner mehr wegräumt, im letzten trockenen Sommer zu einer wahren Brutstätte geworden ist, und plötzlich gibt es eine Borkenkäferepidemie. Und dann muss selbstverständlich doch wieder die Giftspritze gegen den Forstschädling ans Werk, Naturschutz hin oder her.
König: Na, ist doch klar, der Borkenkäfer vernichtet komplette Wälder. Wenn Sie dem freie Bahn lassen, dann brauchen Sie keinen Naturschutz mehr, denn da gibt’s nichts mehr zum Schützen.
Kaiser: Und? Ist der Borkenkäfer vielleicht keine Natur? Sie, Herr König, scheinen der Ansicht zu sein, dass es sich nur bei der Frauenschuh-Orchidee und ähnlich edlen Gewächsen um Natur handelt, bei der Brennnessel aber nicht.
König: Die Natur, die Natur! Auch der Erreger der Beulenpest ist Natur, und trotzdem haben wir das Penizillin erfunden. Oder wollen sie den auch unter Naturschutz stellen?
Kaiser: Das ist doch wohl was anderes! Da geht es um Menschenleben. Wir sprechen vom Wald.
König: Und der ist Natur? Es gibt in Mitteleuropa keinen Wald, wo der Mensch nicht seit Jahr-hunderten gewirtschaftet hat.
Kaiser: So sieht er auch aus. Riesige Mono-kulturen, nichts als Kiefern und Fichten. Kein Wunder, dass sich der Borkenkäfer da heimisch fühlt.
König: Dann wäre der Borkenkäfer ja doch am Ende gar keine Natur, sondern Menschenwerk? Dann darf man ihm mit der Giftspitze auf den Leib rücken?
Kaiser: Die Volksvertreter haben nun mal beschlossen, dass hier nicht eingegriffen wird, bis sich der Naturzustand von allein wieder hergestellt hat. Und wenn der Borkenkäfer dabei hilft, diese Fichtenplantagen abzuräumen, dann umso besser!
König: Also Ihre Natur kommt durch Beschluss der Politiker zustande. Ist dann eine Autobahn-brücke auch Natur?
Kaiser: Die Politiker können ja immerhin beschließen, der Natur eine Chance zu geben.
König: Das bedeutet, wenn der Borkenkäfer zuschlägt, erst mal, dass hier alles abstirbt. Dann haben Sie hier eine herrliche Naturwüste. Oder bezweifeln Sie, dass eine Wüste ein wunderbares Schauspiel der Natur sein kann?
Kaiser: Wo sie hingehört, Herr König, dort ja!
König: Und wo gehört sie hin? Vor 20.000 Jahren war Deutschland zur Hälfte von Gletschern bedeckt, dazwischen war auch nicht viel, ein bisschen Tundra. Natur pur! Dann ist das Eis geschmolzen, die ersten Grashälmlein haben sich durchgesetzt, dann kamen die Wildpferde und Riesenhirsche, und denen waren sofort auch schon die Steinzeitjäger auf der Spur. Die haben fleißig die Steppen abgefackelt und die Herden über die Klippen getrieben, bis der letzte Riesenhirsch ausgerottet war. Das war die Natur der Steinzeit. Dann kamen erst die Birkenwälder, dann die Haselnusswälder, dann die Ulmenwälder, dann die Buchenwälder, eine Natur nach der anderen. Und dann kamen unsere Nadelforste mitsamt dem Borkenkäfer. Welche Natur hätten Sie denn gern?
Kaiser: Wie schön Sie das erzählen können, Herr König. Ich hätte gern eine Natur, in der die Menschen mit den anderen Lebewesen im Gleichgewicht stehen.
König: Herr Kaiser, da fehlt Ihnen die Perspektive. So ein Gleichgewicht hat es nie gegeben und wird es nie geben. Immer waren da schon Menschen neben den Tieren und Pflanzen und haben ihren Senf dazu gegeben. Und immer hat sich alles verändert. Also, Herr Kaiser: Natur mit oder ohne Borkenkäfer? Sie haben es in der Hand!
Kaiser: Mmh. Bloß Borkenkäfer und sonst gar nichts wäre auch nicht schön.
König: Wer spricht von Schönheit, Herr Kaiser.
Kaiser: Nein, schön ist die Natur eigentlich nicht.

Hinweise

Der Dialog handelt davon, wie schwierig es ist, Naturschutz zu treiben und ökologische Ziele durchsetzen zu wollen, wo doch der Begriff der Natur selbst sich als äußerst schillernd erweist. Angeknüpft wird an die beiden Bücher des Ökologen Hansjörg Küster, »Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa« und »Geschichte des Waldes in Mitteleuropa«, die klar machen, dass Naturschutz (man greift nicht in die selbsttätige Dynamik ein) und Landschaftsschutz (ein historisch gewachsener Bestand soll gewahrt werden) sich eigentlich ausschließen.
Kaiser, der sich über die Maßnahmen zur Eindämmung des Borkenkäfers ereifert, vertritt dabei die Partei des reinen Naturschutzes. Er argumentiert:
Auch der Borkenkäfer ist »Natur«, d.h. Teil des dynamischen Ganzen; hier »Lieblinge« zu fördern wie den Frauenschuh, ist ungerechtfertigt.
Katastrophische Veränderungen können dazu dienen, Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu korrigieren (Monokultur in der Forstwirtschaft).
Nur durch Gewährenlassen können Mensch und Natur zum echten Gleichgewicht finden.
König ist dagegen für das bewusste Management der Landschaft und führt an:
Der katastrophische Verlauf bestimmter natürlicher Prozesse verursacht inakzeptabel große Schäden bis hin zur gänzlichen Landschaftsverwüstung.
Reine Natur existiert in Mitteleuropa ohnehin nicht mehr, da der gesamte Raum seit Jahrtausenden vom Menschen bewirtschaftet worden ist.
Auch die Natur selbst unterliegt aus sich selbst heraus relativ rascher Veränderung (Abfolge der nacheiszeitlichen Vegetationsformen).
Auch der Mensch ist Natur, und was er tut, steht darum nicht im absoluten Gegensatz zu ihr.
Dennoch ist es ihm in der Auseinandersetzung mit der Natur gelungen, wesentliche Ver-besserungen der Lebensqualität und –sicherheit durchzusetzen (Stichwort Penizillin).
Der Dialog endet auf einer eher harmonischen Note, indem beide zugestehen, dass Natur jedenfalls nicht im landläufigen Sinn »schön« sei, sondern hier elementare Kräfte walten.

Leitfragen

  • Wann wart ihr das letzte im Wald? Wie sieht es dort aus? Welche Bäume kommen besonders zahlreich vor?
  • Sollte man eingreifen, wenn sich Schädlinge massenhaft vermehren und dem Wald Schaden zufügen?
  • Was heißt »Natur« für Euch? Und was »Naturschutz?«
  • Gehört der Mensch zur Natur?
  • Ein Wissenschaftler hat ausgerechnet, dass im Spessart, wenn er von Menschen bewirtschaftet wird, zwanzig verschiedene Biotope vorkommen, aber nur sechs, wenn sich der Mensch völlig zurückziehen würde. Was ist besser, Naturwüchsigkeit oder möglichst viele Biotope?
  • Der Nationalpark Sächsische Schweiz will die Natur sich selbst überlassen, aber erst in etlichen Jahren, wenn die eingewanderte Weymouths-Kiefer ausgerottet ist, damit die ursprünglich hier heimische Weißtanne eine bessere Chance hat. Was haltet ihr von dieser Strategie?
  • In Laos wurde älterer, artenreicher Wald durch Teakholz-Pflanzungen ersetzt. Die Laoten argumentieren, sie bräuchten erstens dringend das Geld aus dem Holzverkauf und würden zweitens bloß eine geregelte Forstwirtschaft einführen, wie sie die Europäer seit Jahrhunderten haben. Was haltet Ihr von diesen Argumenten?

Links

Institut für Wissenschafts- und TechnikforschungTagungsdokumentation „Die Natur der Natur“
BFN zum Thema Internationaler Naturschutz
Webseite Naturschutz und Entwicklung

DER KAISER VON CHINA

König: Der Gute Stern von Untertürkheim!
Kaiser: Wenn schon ein neues Auto, dann ein richtiges. Für Sardinenbüchsen habe ich keine Verwendung.
König: Für Herrn Kaiser nur das Beste, versteht sich von selbst.
Kaiser: Ich fahre gern auch Rikscha wie in China, aber nur, wenn Sie ziehen, Herr König.
König: Da sind Sie ja wohl nicht ganz auf der Höhe der Zeit, Herr Kaiser. Glauben Sie, in China fährt noch jemand Rikscha außer Touristen? Wissen Sie, was ich die Tage gelesen habe: 400 Millionen Chinesen wollen sich in den nächsten Jahren ein eigenes Auto zulegen! Wissen Sie, was das bedeutet?
Kaiser: Ja, das bedeutet, dass sich demnächst 400 Millionen Mitmenschen von dem würdelosen Dasein als Fußgänger und Busfahrer emanzipieren werden.
König: Diese Antwort sieht Ihnen ähnlich. Sie meinen, was gut ist für Sie, das passt für die ganze Welt. Sie denken nicht weiter als bis zu Ihrer Nasenspitze, oder sagen wir besser gleich, bis zu Ihrem Stern auf dem Kühler.
Kaiser: Im Gegenteil, Herr König! Ich denke höchst sozial. Was ich mir gönne, das gönne ich ohne Neid auch allen anderen.
König: 400 Millionen Autos extra! Als gäbe es nicht jetzt schon genug von diesen Dingern auf der Welt. Haben Sie sich mal überlegt, was das für die Umwelt heißt? Wie viel Sprit die fressen, was da für ein Dreck in die Luft geblasen wird, wie viel Metall die brauchen und wie viel Schrott das gibt, wenn die Karren den Geist aufgeben? Und natürlich 400 Millionen Parkplätze, alle asphaltiert. Das verkraften wir bloß, wenn wir uns einen Reserveglobus zulegen.
Kaiser: Das werden wir sehen. Sie haben Ihre Limousine, und die Chinesen sollen Fahrrad fahren.
König: Ich bin seit zwei Jahren beim Car Sharing dabei, Herr Kaiser, das sollten Sie eigentlich wissen.
Kaiser: Ja, seit zwei Jahren. Ich erinnere mich noch gut an Ihre alte Mühle ohne Kat, eine Dreckschleuder ohnegleichen.
König: Das war einmal. Über diese Phase bin ich hinaus.
Kaiser: Ja, sehen Sie, die Chinesen sind in der Phase noch nicht mal drin. Die wollen alle erst mal ihre eigene Dreckschleuder, das grüne Gewissen rührt sich erst später.
König: Müssen die uns unbedingt alle Fehler nachmachen?
Kaiser: Wo ist der Fehler? Es ist bequem, es ist mobil, und die Nachbarn will man schließlich auch beeindrucken. Übrigens fahren trotz Ihres vorbildlichen Car Sharings auch bei uns noch 50 Millionen Autos herum.
König: Aber die Staus! Der Schmutz! Die Landschaftszerstörung! Die hätten die echte Chance, da von Anfang an was besser zu machen.
Kaiser: Und was heißt besser? Bescheidener, weil es bloß Chinesen sind? Das werden die nicht einsehen. Die denken: Wenn hier sowieso alles den Bach runter geht, dann wollen wir wenigstens auch was davon haben. Warum dürft bloß ihr Dreck machen und wir nicht?
König: Ihre Chinesen haben auffällige Ähnlichkeit mit Ihnen selber, Herr Kaiser – Herr Kaiser von China, darf ich wohl sagen.
Kaiser: Wenn sich hier einer wie der Kaiser von China fühlt, dann sind das bestimmt Sie, Herr König. Sie erörtern dieses Thema so, als könnten Sie den Chinesen Vorschriften machen. Glauben Sie, ein einziger Chinese hört auf Herrn König mit seinem Car Sharing, wenn er sich nach zehn Jahren Sparerei seinen ersten Mazda kaufen kann?
König: Aber das ist so unvernünftig! Jeder kann sehen, dass die Welt das 21. Jahrhundert nicht überstehen wird, wenn jeder bloß an sein eigenes Auto denkt.
Kaiser: Sie sind ein wahrer Vordenker der postmaterialistischen Weltgesellschaft, Herr König. Aber die Chinesen wollen jetzt erst mal das Materielle, wie unsere Eltern in den Fünfzigern. Denen hätten Sie den ersten Urlaub in Rimini am Steuer des neuen VW Käfer auch nicht ausgeredet.
König: Die Menschheit muss lernen, solidarisch zu denken und zu handeln, sonst werden wir untergehen.
Kaiser: Kennen Sie einen einzigen Fall, Herr König, wo die Menschheit sich schon mal solidarisch verhalten hat?

Hinweise

Hat der letzte Dialog von der Kollision universaler und lokaler Werte gehandelt, so stoßen diesmal zwei universale Werte zusammen: der Schutz der natürlichen Umwelt und der Anspruch der bislang Benachteiligten auf Gerechtigkeit (hier besonders auf Gleichstellung im Lebensstandard).
Kaiser und König haben die Rollen nunmehr vertauscht: Während jetzt Kaiser die Ansicht vertritt, dass die Chinesen ein ebenso gutes Recht wie wir haben, sich ein Auto zuzulegen (»was ich mir selbst gönne, gönne ich auch den anderen«), weist König darauf hin, welche Umweltbelastungen entstehen würden, wenn überall der westliche Mobilitäts-Standard erreicht würde (»dafür bräuchten wir einen Reserveglobus«). Dass Kaiser ein lustbetontes Verhältnis zum Automobil hat und König zu den von ihm geschmähten Fußgängern und Busfahrern gehört, prägt den Gang der Diskussion vor.
Der Ton ist auf beiden Seiten diesmal in besonderem Maß spöttisch-aggressiv. Die Kontrahenten werfen einander selbstherrliche Ignoranz vor: Kaiser wisse nichts vom prekären Zustand des Klimas und der Ressourcen, König maße sich an, den anderen vorzuenthalten, was er selbst besitzt; beide titulieren einander darum als »Kaiser von China«.
Die bemerkenswertesten Argumente werden diesmal von Kaiser vorgebracht: Gegen Königs Behauptung, die frühere Besessenheit von Wohlstand und Mobilität in Deutschland sei ein »Fehler« gewesen, den die Chinesen vermeiden sollten und könnten, betont er die Unausweichlichkeit historischer Prozesse, die sich nicht willkürlich abkürzen lassen. Und er weist pragmatisch darauf hin, dass die Chinesen nicht nur das Recht, sondern auch die faktischen Mittel haben, sich auswärtiger Bevormundung zu entziehen.
Der Dialog schließt mit einer scharfen Entgegen-setzung: König beharrt darauf, dass die Mensch-heit insgesamt umdenken müsse; Kaiser erklärt solche Einhelligkeit für völlig illusorisch. Dieser zentrale Streitpunkt wird nicht mehr vertieft und bleibt unaufgelöst im Raum stehen

Leitfragen

  • Kennt Ihr jemanden, der aufs Auto bewusst verzichtet oder Car Sharing betreibt? Was für Erfahrungen hat er gemacht?
  • Könntet Ihr und Eure Familien ohne Auto leben? Unter welchen Umständen würdet Ihr das tun?
  • Früher gab es in China nur Fahrräder, heute ist China der weltweit größte Markt für Autos. Ist das gut oder schlecht?
  • König meint, die Chinesen sollten aus den Fehlern lernen, die die Europäer in der Vergangenheit im Umgang mit Natur und Ressourcen gemacht haben. Glaubt Ihr, dass das funktioniert?
  • Kaiser sagt, was er sich selbst gönne (ein großes Auto z.B.), das gönne er gern auch allen Anderen. Was haltet Ihr von diesem Argument?
  • Kaiser und König bezichtigen sich gegenseitig, der Andere wolle sich als Kaiser von China aufspielen. Wer hat recht – einer, beide, keiner?
  • König sagt: »Das verkraften wir nur bloß, wenn wir uns einen Reserveglobus zulegen.« Was meint er damit?
  • Kaiser meint zum Schluss, die Menschheit als Ganzes sei außerstande, gemeinsam zu handeln, wenn es um ihr gemeinsames globales Interesse geht. Hat er recht?

Links

Rat für Nachhaltige Entwicklung
Mut zur Nachhaltigkeit — Ressourcen/Energie

DAS BOOT IST VOLL

König: 113.
Kaiser: 113 was?
König: Afrikaner, die beim Versuch, mit einem Schlauchboot von Tunesien nach Sizilien zu gelangen, im Mittelmeer ertrunken sind. Kleine Meldung in den Nachrichten.
Kaiser: Schrecklich.
König: Ja, vor allem wenn man daran denkt, dass man das hätte verhindern können.
Kaiser: Wie wollen Sie das denn verhindern, Herr König? Wenn diese Leute aus Afrika in so einen Seelenverkäufer steigen und übers Meer fahren, dann können wir gar nichts machen. Die wissen doch, auf was für ein Risiko sie sich einlassen.
König: Da war ein Dutzend Kinder unter fünf Jahren dabei. Die haben bestimmt genau gewusst, worauf sie sich einlassen.
Kaiser: Für die sind die Eltern verantwortlich.
König: O ja, die bösen Eltern. Glauben Sie nicht, die kämen lieber mit der Chartermaschine? Warum, Herr Kaiser, glauben Sie, reisen die so lebensgefährlich? Weil wir ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen. Wenn die ein Visum hätten, würde keiner ertrinken.
Kaiser: Wenn wir denen allen ein Visum geben, ist Afrika in drei Jahren entvölkert. Die sind dann nämlich alle bei uns.
König: Und warum ist das so? Meinen Sie, es geht irgendjemand von daheim weg ins feindliche Ausland, wenn er nicht muss?
Kaiser: Das sind eben Wirtschaftsflüchtlinge, die ein besseres Leben wollen. Aber das geht nur in Maßen, das muss man steuern.
König: Schauen Sie sich mal an, was das für ein Leben ist, das die hier führen, wenn sie durchkommen. Die sind allein und weit weg von ihren Leuten, die kriegen erbärmliche Löhne, die haben nie Ruhe und immer Angst vor Abschiebung. Und vergessen Sie nicht unser Klima, was das für einen Afrikaner heißt. Wenn das für die das bessere Leben ist, Herr Kaiser -! Denken Sie mal drüber nach.
Kaiser: Verstehe ich doch alles. Aber wir können hier nicht das ganze Afrika bei uns aufnehmen. Man muss die Problem vor Ort bekämpfen.
König: Und wie macht man das Ihrer Meinung nach?
Kaiser: Wir haben doch einen Riesen-Etat für Entwicklungshilfe und so.
König: Brunnen bohren, Straßen bauen, Schulen einrichten, Infrastruktur …
Kaiser: Genau.
König: Macht man doch seit Jahrzehnten. Hilft bloß nichts. In Afrika sieht es schlimmer aus als vor fünfzig Jahren. An die Probleme in Afrika kommen wir gar nicht ran.
Kaiser: Kann schon sein. Aber heißt das, dass wir die Probleme Afrikas hier lösen müssen?
König: Wenn sie herkommen, dann schon. Dann sind das nämlich plötzlich unsere Probleme.
Kaiser: Wenn sie herkommen. Da haben wir vielleicht auch noch ein Wörtchen mitzureden. Wir sind schließlich kein Einwanderungsland.
König: Meinen Sie? Schauen Sie sich doch mal um! Gehen Sie mal in die Frankfurter Innenstadt! Da sehen Sie mehr dunkle als helle Haut. Aber Frankfurt boomt. In Mecklenburg gibt es vielleicht bloß 2% Ausländer. Und Mecklenburg boomt trotzdem nicht. Eigentlich kann man sagen: Je mehr Ausländer, desto mehr blüht das Land.
Kaiser: Vielleicht ist es ja auch umgekehrt: Je mehr das Land blüht, desto mehr Ausländer kommen.
König: Naja, jedenfalls scheinen sie die Blüte nicht zu stören. Und denken Sie auch mal daran: Wir sind ein aussterbendes Volk. Letztes Jahr sind schon wieder mehr Deutsche gestorben, als geboren worden sind. Irgendwas müssen wir uns da einfallen lassen.
Kaiser: Mit Deutschen aus Nigeria und Kirgistan?
König: Beim deutschen Fußball funktioniert das doch schon lang. Da schwenken alle die schwarzrotgoldene Fahne, wenn Merut Özil ein Tor schießt.
Kaiser: Herr König, es hilft doch nichts. Irgendwann ist das Boot voll.
König: Ja. Das Schlauchboot.

Hinweise

Der Dialog steigt ins Thema der Armutsmigration an dessen heikelster Stelle ein, beim Unfalltod von Migranten, der aus der riskanten Art ihres Reisens resultiert. Darüber, dass derartige Fälle schrecklich sind, herrscht zwischen Kaiser und König Einigkeit. Danach entfernen sich ihre Positionen rasch voneinander: König befürwortet die Einwanderung, auch in großem Stil, Kaiser lehnt das ab. Die Diskussion behandelt die zwei großen Themenbereiche der Verantwortung einerseits, der Nützlichkeit und Praktikabilität andererseits. Sie nimmt folgenden Verlauf:
Themenbereich Verantwortung:
Kaiser: Für die Gefahren einer Reise ist der verantwortlich, der sie antritt; Eltern haften für ihre Kinder.
König: Nein, verantwortlich sind diejenigen, die der Reise Hindernisse bereiten.
Kaiser: Wir können nicht alle aufnehmen. (Kaiser bemüht hier den Kategorischen Imperativ in der etwas vergröberten Form des »Da könnte ja jeder kommen«.)
König geht darauf nicht ein, sondern begründet die objektive Notwendigkeit der Migration in einer Argumentation a potiori: Wenn schon die Migranten nach Europa kommen, um unter derartig miserablen Bedingungen zu leben, um wie viel schlimmer müssen die Lebensbedingungen erst daheim in Afrika gewesen sein.
Kaiser verlangt die Lösung der Probleme »vor Ort«.
König erklärt dies für unmöglich.
Kaiser bestreitet nunmehr prinzipiell die Verantwortung der reichen Regionen für die ärmeren.
König kontert, dass in einer globalisierten Welt Abschottung vor den Problemen der anderen nicht funktionieren kann, weil die Auswirkungen sich auf jeden Fall auch bei uns bemerkbar machen.
Themenbereich Nützlichkeit und Praktikabilität:
Kaiser: Wir sind kein Einwanderungsland!
König: Diese Behauptung widerspricht den offensichtlichen Tatsachen.
König: Die Ausländer schaden der deutschen Gesellschaft nicht nur nicht, sie nutzen ihr sogar. Beweis: Die prosperierenden Gebieten Deutschlands haben den höchsten Ausländer-Anteil.
Kaiser kehrt den Kausalzusammenhang um: Die prosperierende Wirtschaft ziehe vielmehr erst die Ausländer an.
König: Deutschland braucht Einwanderung schon aus demografischen Gründen.
König: Integration von Menschen auch aus fernen Kulturkreisen funktioniert bereits heute. Beispiel: Sport.
Kaiser: argumentiert kaum mehr, sondern beharrt nurmehr bockig auf seiner Meinung.
Die Position Kaisers, besonders gegen Ende des Dialogs, ist eindeutig schwächer als diejenige Königs. Das scheint gerechtfertigt im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der Ausländer- und Einwanderungs-Debatte, die von Theo Sarrazin, Henryk Broder u.a. angestoßen worden ist. Die Befürworter von Restriktionen gegenüber Ausländern sind dadurch gehalten, sich selbständig an der Argumentation Königs abzuarbeiten.

Leitfragen

  • Kaiser sagt, der Ertrinkungstod der Flüchtlinge im Mittelmeer hätte sich vermeiden lassen. Wie meint er das? Hat er recht?
  • Ist es Aufgabe der reicheren Länder, das Elend in Afrika zu bekämpfen? Können sie das überhaupt?
  • Glaubt Ihr, wie Kaiser sagt, dass alle Afrikaner nach Europa kämen, wenn man sie ließe?
  • Sollte es bei den Einreise-Vorschriften Unterschiede zwischen Ausländern geben, die politisch verfolgt werden und die vor der Armut fliehen?
  • Meint Ihr, dass die Ausländer, die dauerhaft hier leben, für unsere Gesellschaft einen Vorteil oder eine Last bedeuten?
  • Manche Waren, z.B. das Gemüse aus Spanien, sind deswegen so preiswert, weil illegal eingewanderte Billiglohnarbeiter bei der Produktion eingesetzt werden. Wärt ihr bereit, mehr für das Gemüse zu bezahlen, wenn der Status der Arbeiter legalisiert würde?
  • Wenn ein Türke als Profi-Fußballer für eine deutsche Mannschaft Tore schießt, ist er denn mehr ein Deutscher oder mehr ein Türke?

Links

Informationswebseite von borderline europe- Menschenrechte ohne Grenzen e.V.
Pro Asyl e.V.
Amnesty International
medico international zum Thema Migration
Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (Frontex)

DIE ECHTE ÖKO-TOMATE

Kaiser: Was haben Sie denn da für schöne rote kugelrunde Tomaten, Herr König? Sind Sie sicher, dass es sich dabei um ökologisch korrekte Erzeugnisse handelt?
König: Selbstverständlich. Etwas anderes kommt mir gar nicht in die Tüte.
Kaiser: Was für eine Tüte? Ich sehe bloß Ihr hübsches handgeflochtenes Körbchen.
König: Wissen Sie, Herr Kaiser, ich versuche einfach konsequent zu leben und so weit wie möglich reine Naturprodukte zu verwenden. Das schließt Körbchen und Tomaten ein. Tomaten besonders. Kein Kunstdünger, keine Giftstoffe, keine genveränderten Sorten.
Kaiser: Logisch, Herr König. Ich will ja auch kein Gift im Essen, und dass der viele Kunstdünger unser Grundwasser ruiniert, das ist auch schon bis zu mir vorgedrungen. Aber sagen Sie mir bitte: Was haben Sie gegen genveränderte Tomaten?
König: Sie interessiert mal wieder bloß, was Sie persönlich betrifft, Herr Kaiser. Von den weit reichenden Konsequenzen der genetischen Eingriffe bei Lebensmitteln scheinen Sie keinen Dunst zu haben.
Kaiser: Nämlich?
König: Jeder Eingriff ins Erbgut pflanzt sich in unendlich viele Nachfolge-Generationen fort und kann sich unkontrolliert über die ganze Erde verbreiten. Das macht man heute ganz beiläufig, als wäre das gar nichts. Aber man kann es in tausend Jahren nicht mehr korrigieren. Solche Manipulationen verzeiht die Natur nicht.
Kaiser: Die Natur, die Natur! Seit es Menschen gibt, manipulieren sie die Natur, sonst säßen wir immer noch auf den Bäumen und würden Eicheln rülpsen. Glauben Sie vielleicht, die ganzen Hunderassen, vom Chihuahua bis zum Bernhardiner, die alle vom selben alten Wolf abstammen – glauben Sie, die zu züchten, das wären keine Eingriffe ins natürliche Erbgut gewesen?
König: Doch, aber die kamen von außen und waren indirekt und haben ewig gebraucht, bis was rauskam, das man verwenden konnte.
Kaiser: Ja, gerade so, wie man früher seine Körbchen mit der Hand geflochten und dafür einen halben Tag gebraucht hat. Heute kriegen Sie zum gleichen Zweck bei Pfennig-Pfeiffer eine lila Plastikwanne für 99 Cent.
König: Mit einem Wort: Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten.
Kaiser: So ist es. Und ich sage Ihnen noch was: Je exakter Sie die Pflanze genetisch manipulieren, desto weniger Wasser, Dünger und Gift brauchen Sie, um dieselbe Menge Nährwert zu erzeugen. Gerade von einem ressourcebewussten Menschen wie Ihnen, Herr König, hätte ich mehr Dankbarkeit für die Gentechnik erwartet.
König: Wissen Sie, Herr Kaiser, mir ist bei der ganzen Sache nicht wohl zumute. Wenn wir damit erst mal anfangen, wo hören wir auf? Erst produziert man Algen, die im Dunkeln leuchten. Letzte Woche habe ich gelesen, taiwanesische Wissenschaftler haben ein Schwein erzeugt, dass bei UV-Licht blau strahlt.
Kaiser: Sie meinen, ein Schwein strahlt blau?
König: Das meine ich. Und als nächstes kommt der phosphoreszierende Mensch.
Kaiser: Das wäre für Sie doch höchst praktisch, Herr König, wenn Sie das nächste Mal nachts Ihren Schlüssel verlieren. Dann brauchen Sie mich nicht mehr aus dem Bett zu klingeln, um meine Taschenlampe auszuborgen.
König: Herr Kaiser, Herr Kaiser. Sie wissen doch genau, dass wir hier ein Fass aufmachen, das wir nicht mehr zukriegen. Da sind so viele Sorten im Lauf der Jahrtausende entstanden, die gehen jetzt schon den Bach runter. Und bald gibt es nur noch eine einzige EU-normierte Schnitttomate, in Würfelform, damit sie sich besser stapeln lässt. Was für ein Verlust von Vielfalt.
Kaiser: Im Gegenteil, Herr König. Wenn man jederzeit was Neues aus dem Ärmel zaubern kann – Sie werden sehen, wie das die Vielfalt beflügelt! Das hat die Menschheit noch nicht erlebt.
König: Ja, wenn es noch die Menschheit wäre, die hier lieber Gott spielt. Aber wir haben es nicht mit der Menschheit zu tun, sondern mit den großen Agro- und Lebensmittel-Konzernen. Das sind die einzigen, die sich die nötige Forschung leisten können. Und darauf lassen sie sich dann ihr Copyright erteilen. Dann kann kein Bauer in der Dritten Welt mehr sein Saatgut selbst nachziehen, er muss es von Nestlé oder Monsanto nachkaufen. Die kontrollieren dann die Ernährung der ganzen Welt. Wollen Sie das, Herr Kaiser?
Kaiser: Nein, das will ich wirklich nicht. Ich glaube aber nicht, dass das passieren wird. Da wird es politische Lösungen geben. Aber eins steht fest: Wenn wir nicht ganz schnell viel mehr Nahrung als jetzt produzieren, wird es demnächst auf der Welt sehr knapp. Sie sind doch der Zeitungsleser, Herr König! Schauen Sie sich mal um. Das geht doch jetzt schon los.
König: Es gibt doch auch andere Mittel. Wir müssen vernünftig mit dem Wasser umgehen. Wir müssen die Böden intelligent nützen. Die ertragreichen Sorten für jedes Klima gibt es doch jetzt schon, warum pflanzt sie keiner?
Kaiser: Alles schön und gut. Aber in Ihrem feinsinnigen Werkzeugkasten zur Steigerung der Welternährung, Herr König, da fehlt was. Da fehlt so was wie der große Hammer.
König: Ja, der fehlt wohl. Was glauben Sie, Herr Kaiser, kommt heraus, wenn wir die Welt mit dem Hammer bearbeiten?

Hinweise

Es geht um die – längst mögliche und teils auch schon praktizierte – gentechnische Veränderung von Lebensmitteln und Lebewesen. König, der sich um eine konventionell ökologische Lebensführung bemüht, lehnt dies konsequent ab, während Kaiser behauptet, dass gerade die Gentechnik neuartige positive Auswirkungen auf Umwelt und Welternährung haben könnte. Der Ton ist, da hier auch private Lebensentwürfe aufeinanderprallen, besonders am Anfang recht spitz. Die Argumente gruppieren sich folgendermaßen:
König: Gentechnik ist als solche schon grundsätzlich naturwidrig.
Kaiser: lässt das mit Hinblick auf die von jeher naturverändernde Tätigkeit des Menschen nicht gelten.
König: Gentechnische Veränderungen werden, gemäß dem Mechanismus der Fortpflanzung, ihre Auswirkungen noch tausend Generationen später zeigen; das ist ein unverantwortlicher Umgang mit der Zukunft.
Kaiser: Das gilt für alle je gemachten züchterischen Erfolge (Beispiel: Hunderassen).
König: Das geht viel zu schnell!
Kaiser: Beschleunigung liegt im Wesen des historischen Fortschritts und hat erheblich zu unserer heutigen Lebensqualität beigetragen.
Kaiser: Gerade zielgerichtete gentechnische Veränderungen könnten ökologische Nutzwirkung haben (Schädlingsresistenz, bessere Verwertung von Dünger und Wasser).
König: -
König: Wehret den Anfängen! Was bei Pflanzen und Tieren funktioniert hat, wird früher oder später auch am Menschen versucht werden.
Kaiser: -
König: Die Gentechnik bedroht den ererbten Bestand an genetischer Differenz.
Kaiser: Im Gegenteil! Denn jetzt können beliebig viele Varianten erzeugt werden.
König: Die Gentechnik führt dazu, dass Ackerbau und Viehzucht noch mehr als bisher von den großen Konzernen dominiert werden, zu Lasten der kleinen Bauern.
Kaiser: schlägt gesetzliche Gegenmaßnahmen vor.
Kaiser: Der gegenwärtigen prekären Welt-ernährungslage ist nur durch entschiedene Optimierung beizukommen.
König: bietet einen Katalog alternativer Maß-nahmen auf (den Kaiser für unzulänglich erklärt).

Leitfragen

  • Was wisst Ihr über Gentechnik und die Möglichkeit gezielter genetischer Veränderung? Wie funktioniert das?
  • Würdet Ihr genetisch veränderte Lebensmittel essen? Warum? Warum nicht?
  • Mais- und vor allem Sojakulturen werden jetzt schon großenteils gentechnisch verändert. Welche Folgen könnte dies für die Umwelt haben? Für die Bauern? Für die Verbraucher?
  • König erwähnt Schweine, die durch genetische Manipulation dazu gebracht wurden, im Dunklen zu leuchten. Geht das zu weit? Wo sollte man Grenzen ziehen?
  • Sollte es erlaubt sein, ins Erbgut des Menschen einzugreifen, wenn dadurch bestimmte Erkrankungen vermieden werden könnten?
  • Gibt es Eurer Meinung nach einen Unterschied zwischen Züchten und genetisch Verändern?
  • Es zeichnet sich gegenwärtig ab, dass die Nahrungsmittel für die Menschheit immer knapper werden. Was könnte man dagegen tun? (Vorsicht! Die Frage hat die Tendenz, zu einem eigenständigen Thema zu werden.)
  • Könnte Gentechnik die Ernährungslage der Menschheit verbessern? Sollte sie es?

Links

Informationsportal TransGEN über die Anwendung der Gentechnik in Landwirtschaft
Informationsdienst Gentechnik
Gen-Ethisches Netzwerk

LÜNEBURG FOREVER

Kaiser: Was ist denn eigentlich aus dem Kupferschälchen geworden, das ich Ihnen aus Marokko mitgebracht habe? Ich hoffe doch, dass es einen Ehrenplatz auf Ihrem Jugendstil-Sekretär gefunden hat?
König: Es hat seinen Ehrenplatz in der linken unteren Schublade ganz hinten gefunden, damit ich möglichst wenig an Ihre Marokko-Reise denken muss.
Kaiser: Herr König, wo bleibt Ihr Sinn für die Entwicklungsländer?
König: Wissen Sie eigentlich, Herr Kaiser, was Marokko für ein politisches System hat?
Kaiser: Naja, eine konservative Monarchie, stabile Verhältnisse seit Jahrzehnten … aber mir hat’s dort unten jedenfalls gut gefallen.
König: Das ist natürlich die Hauptsache, dass es dem Herrn Kaiser gefällt. Konservativ, stabil – so kann man das auch ausdrücken. Ich habe gerade einen Bericht von amnesty international in der Hand gehabt: willkürliche Verhaftungen, furchtbare Zustände in den Gefängnissen, Folter. Aber dem Herrn Kaiser gefällt’s.
Kaiser: Moment, Moment, Sie glauben doch hoffentlich nicht, dass mir die Gefängnisse gefallen! Davon hab ich doch überhaupt nichts gesehen. Ich war doch bloß als Tourist da.
König: Sie finden also, man kann als Tourist ohne weiteres in ein Land mit einem Regime fahren, das die Menschenrechte mit Füßen tritt?
Kaiser: Mit dem Regime hab ich nichts zu tun gehabt. Ich habe lauter Menschen gesehen, die sich des Lebens freuen und mich freundlich behandeln. Und denen habe ich doch bestimmt auch ein Stück weit geholfen, wenn ich dort mein Geld ausgebe. Was glauben Sie, wie viele Leute so um einen herumschwirren, wenn man bloß abends essen geht? Einer macht die Tür auf, einer begrüßt den Gast, einer bringt das Besteck – ohne Touristen hätten die keine Einkünfte mehr. Das kann doch wohl nicht Ihre Absicht sein, Herr König. Oder?
König: Wie Sie es auch drehen und wenden, sie unterstützen immer das Regime, auch wenn Sie davon nur den Polizisten zu sehen kriegen, der Ihnen den Weg zeigt.
Kaiser: Wieso?
König: Wieso!? Weil ein Staat, egal ob gerecht oder ungerecht, immer bloß dadurch ein Staat ist, dass er seine Bürger am Wickel hat. Weil sie mit Ihrem Geld seinen Haushalt finanzieren. Weil es sein Prestige steigert, wenn leichtsinnig begeisterte Urlauber wie Sie kommen.
Kaiser: Ich bin begeistert von den Soukhs in Marrakesch, aber doch nicht von dem komischen Sultan, oder was die dort haben. Meinen Sie im Ernst, ich tu was für die Befreiung in Marokko, wenn ich daheim bleibe? Im Gegenteil! Wenn ich dort Urlaub mache, bin ich fast so was wie ein Botschafter der westlichen Zivilgesellschaft!
König: In Badehosen.
Kaiser: Allerdings in Badehosen! Da sehen die doch, dass es so was überhaupt gibt. Das weckt die Sehnsucht nach Freiheit.
König: Ich bezweifle ja, dass ausgerechnet der Anblick ihres blanken Bierbauchs diese Sehnsucht auslöst.
Kaiser: Ich muss einfach drei Wochen im Jahr wohin fahren, wo es warm ist. Und wo es warm ist, gibt es eben immer irgendwelche Regimes. Die sind wie die Südfrüchte. Demokratie hat immer was mit Schnee zu tun. In Sri Lanka jagen sie die Separatisten, in Thailand wird auf Demonstranten geschossen, und in Saudi-Arabien dürfen die Frauen nicht Auto fahren. Was möchten Sie mir denn empfehlen, Urlaub in Lüneburg mit Heidschnuckenstreicheln? Die Welt ist leider nirgends perfekt. Und bestimmt wird sie nicht besser, bloß weil wir nicht hinfahren.
König: Hinfahren und bloß nicht hingucken, das ist Ihr Motto! Wenn sich jemand im KZ einen Liegestuhl mietet und in der Sonne aalt, und so tut, als geht ihn das alles ringsherum nichts an, da sage ich Ihnen: Das ist komplett verantwortungslos!
Kaiser: Ich will doch nur Urlaub machen!
König: Machen Sie Urlaub, Herr Kaiser. Machen Sie Urlaub. Und vergessen Sie keinesfalls Ihre Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 20. Der lässt nichts durch.

Hinweise

Das allgemeine ethische Problem: »Wie weit darf man sich mit jemandem, der Unrecht tut, einlassen, ohne dass man selbst an dessen Schuld teilhat?« erscheint hier zugespitzt zu der Frage, ob ein West- oder Nordeuropäer in einer Diktatur Urlaub machen sollte. (Kaiser bejaht, König verneint es.) Im Gegensatz zur Handels- oder Bündnispolitik kann auch eine Privatperson hier eine Entscheidung treffen. Der Dialog nimmt Motive aus Nr. 1 auf (Marokko). Kaiser bezieht die Position, dass er als Urlauber von nichts Bösem gewusst habe, wodurch er bei König, der diese Haltung als unverantwortlich ansieht, wachsende Gereiztheit auslöst. Kaiser argumentiert:
Er habe auf seiner Reise keinerlei Berührung mit dem »Regime« gehabt, sondern sei nur freundlichen Menschen begegnet.
König kontert: Da alle Staaten, einschließlich der demokratisch legitimierten, den Zug ins Totale hätten, unterstütze auch der private Urlauber indirekt diesen Staat mit.
Wer im Land Geld ausgibt, hilft denjenigen, die es kriegen. Hier geschieht konkret etwas für die Menschen, während einfach daheim zu bleiben nichts gegen die dortige Regierung ausrichtet.
König:Von wegen! Über Besteuerung und Prestigegewinn des Reiselandes profitiert immer auch das Regime.
Kontakt mit westlichen Urlaubern könne reformerische Tendenzen im Land fördern.
Diese Behauptung wird von König nicht widerlegt, sondern verspottet.
Moralischer Rigorismus sei in der Welt, wie sie nun einmal sei, praktisch unhaltbar.
König: Es sei unmoralisch, dort sein Vergnügen zu suchen, wo andere leiden (»Liegestuhl im KZ«).
Der Dialog endet diesmal auf einer krass unversöhnlichen Note.

Leitfragen

  • In welche Länder fahrt Ihr am liebsten in Urlaub? Wisst Ihr etwas über die politischen Verhältnisse dort? Ist Euch das wichtig?
  • Wenn Ihr bei einem Preisausschreiben eine tolle Reise gewinnen würdet – würdet Ihr nach Saudi-Arabien fahren, wo die Frauen nicht Auto fahren dürfen? Nach Syrien, wo zur Zeit die Regierung mit Panzern auf die Bevölkerung schießt?
  • Kaiser meint, in gewissen Weltregionen würden die Diktaturen gedeihen »wie die Südfrüchte«, also gewissermaßen ganz natürlich. Was denkt Ihr darüber?
  • Kann ein westlicher Urlauber in einem diktatorisch regierten Land etwas Positives bewirken? Oder sollte er lieber gar nicht erst hinfahren?
  • König sagt, in einem Land mit einer Diktatur Urlaub zu machen, das wäre, wie wenn man in einem KZ einen Liegestuhl mietet und sich sonnt. Stimmt das?

Links

Informationsdienst Dritte Welt-Tourismus
INKOTA: Zeit für einen neuen Tourismus
INKOTA: Begegnungen der anderen Art

MICROSOFT AN DIE LATERNE!

Kaiser: (pfeift die Anfangstakte der Marseillaise)
König: Herr Kaiser, so musikalisch heute?
Kaiser: Ich habe heute eben gute Laune.
König: Und da pfeifen Sie revolutionäre Lieder? Die Marseillaise?
Kaiser: Na klar! Freiheit, Gleichheit, Brüder-lichkeit! Was dagegen?
König: Für einen Revoluzzer hätte ich Sie eigentlich nicht gehalten, eher für einen verkappten Kapitalisten.
Kaiser: Da schätzen Sie mich eben wieder ganz falsch ein.
König: Immer auf der Seite der Enterbten und Entrechteten, was?
Kaiser: Ganz genau. Und ich sage Ihnen noch was: Schauen Sie sich um auf der Welt, und Sie werden feststellen, wir könnten heute wieder eine Revolution brauchen, wie in Paris 1789.
König: Kopf ab für Reaktionäre, Aristokraten an die Laterne!
Kaiser: Wenn es sich als nötig erweisen sollte …
König: Aha. Und wer sind heute die Aristokraten? Wir haben doch schließlich Demokratie.
Kaiser: Ja, schöne Demokratie! »Alle Macht geht vom Volke« aus, heißt es im Grundgesetz. Aber wo sie hingeht, die Macht, da findet man natürlich nichts drüber!
König: Und wo geht sie Ihrer Meinung nach hin?
Kaiser: Das liegt doch auf der flachen Hand, dass die Politiker sich zwar vom Volk wählen lassen, aber dann kuschen sie vor den Bossen der gro-ßen Konzerne. Die haben die Hosen an!
König: Also Revolution gegen Shell und Microsoft?
Kaiser: Allerdings!
König: Nur blöd, dass die im Ausland sitzen. Wenn wir bei uns Revolution machen, das merken die gar nicht. Höchstens dass sie uns die Tankstellen oder Computer dicht machen.
Kaiser: Ich spreche doch gar nicht mal so sehr von uns. Haben Sie eine Ahnung, was in der sogenannten Dritten Welt los ist? Nur ein Beispiel: Da entdeckt man plötzlich in Amerika, dass man aus Mais Benzin machen kann; schon sind alle Spekulanten dabei, und der Mais wird so teuer, dass sich die Leute in Lima und Mexico City ihre Tortillas nicht mehr leisten können.
König: Ja, und deswegen hat auch wirklich eine Revolution stattgefunden!
Kaiser: Davon habe ich nie was gehört. Wo denn?
König: In Südamerika, in Ecuador. Dort hat es gegen die unerschwinglich gewordenen Lebensmittelpreise einen Aufstand gegeben, und das Volk hat die Regierung aus dem Amt gejagt, die es grade erst gewählt hatte.
Kaiser: Das ist ja toll! Warum weiß ich davon nichts?
König: Weil es ein Land wie Ecuador bei uns in den Zeitungen höchstens auf Seite 5 schafft. Was geht uns schließlich Ecuador an?
Kaiser: Erzählen Sie doch!
König: Was gibt es da schon zu erzählen. Die Revolution war also ein voller Erfolg, Präsident und Regierung sind gestürzt, und das war’s.
Kaiser: Was soll das heißen, das war’s?
König: Na, alles ist geblieben wie vorher. Die Tortillas waren immer noch unerschwinglich.
Kaiser: Wie?
König: Die Preise für den Mais, die werden doch nicht in Ecuador gemacht, sondern an der Börse von Chicago. Da können die Revolutionäre von Ecuador im Dreieck springen, wenn sie wollen, darauf haben sie keinen Einfluss.
Kaiser: Ja und was können die Leute dann tun?
König: Das ist die Frage. Revolutionen sind nationale Angelegenheiten, aber die Wirtschaft wird immer globaler. Marx hat sich das so vorgestellt, dass die Arbeiterklasse die Ausbeuter verjagt, weil die nämlich in der Villa gleich neben dem Slum gewohnt haben. Unsere Arbeiterklasse sitzt in Bangla Desh und Kambodscha. Was nützt es, wenn sie dort Revolution machen? Gar nichts, die kommen von dort aus doch überhaupt nicht ran an die Leute, die die wirkliche Macht haben. Oder wie sehen Sie das?
Kaiser: Da haben Sie wohl leider recht. Und trotzdem sage ich Ihnen eins, Herr König: Wenn die Lage unerträglich wird und wenn es überhaupt keine Freiheit und keine Gerechtigkeit mehr gibt, dann stehen die Menschen auf. Und dann werden Dinge passieren, die weder Sie noch ich uns heute vorstellen können.

Hinweise

Der Dialog untersucht, welche Chancen eine Revolution unter den Bedingungen der Globalisierung hätte. Ist sie möglich, sinnvoll, was könnte sie bewirken? Kaiser, obwohl beruflich den Interessen der Wirtschaft nahestehend, erklärt Revolutionen auch heute für wünschenswert und unumgänglich; König bleibt skeptisch.
Den Ausgangspunkt des Gesprächs bildet die klassische bürgerliche Revolution von 1789. Beide sind sich einig, dass die Zustände sich seither geändert haben. Kaiser denkt von dort weiter bis zu Marx, der den Kampf gegen das bürgerliche Kapital fordert, und macht als zu bekämpfenden Feind folglich die großen Konzerne aus. König wendet ein, dass Revolutionen stets innerhalb national verfasster Gesellschaften stattfinden, das globalisierte Kapital sich aber so nicht fassen lässt: Die Klassenschichtung ist nicht mehr strikt vertikal in einem Land organisiert, sondern gewissermaßen schräg versetzt durch Auslagerung der Produktion in Länder der Dritten Welt. Dort sind die Bedingungen am unerträglichsten, und gerade dort erreicht die revolutionäre Gewalt ihren Feind nicht (Beispiel: Ecuador). Revolution bleibt ohnmächtig genau in dem Maß, wie sie notwendig wäre.
Das Übergewicht, das König mit dieser Darstellung am Ende zu gewinnen scheint, wird teilweise dadurch aufgehoben, dass Kaiser das letzte Wort behält: Er beharrt auf dem der Utopie verpflichteten Gedanken, dass künftige Geschichte das Unvorstellbare zeitigen könnte.

Leitfragen

  • Was wisst Ihr über die Französische Revolution von 1789? Was heißt »Aristokraten an die Laterne«?
  • Wer hat hier bei uns die Macht? Das Volk? Die Regierung? Die Konzerne?
  • Große Firmen wie Microsoft oder Shell betreiben ihre Geschäfte auf der ganzen Welt. Ist das gut oder schlecht? Was ist gut, was ist schlecht?
  • Glaubt Ihr, dass es hier bei uns zu einer Revolution kommen könnte? Oder sollte? Was würde sich dadurch ändern?
  • Hat es Sinn, wenn in Bangla Desh die Textilarbeiter für höhere Löhne auf die Straße gehen? Welche Chancen hat das Volk von Ecuador, wenn es seine Regierung stürzt?
  • Kaiser sagt zum Schluss, wenn die Lage völlig unerträglich würde, dann würden Dinge passieren, die sich heute keiner vorstellt. Was meint er damit?

SIND SIE EIGENTLICH GLÜCKLICH?

Kaiser: Sie schauen ja heute ganz unglücklich aus, Herr König.
König: Ist eben nicht mein Glückstag heute. Schweigen wir davon. Und überhaupt, wer ist schon glücklich?
Kaiser: Na, z.B. die Einwohner von Bangla Desh.
König: Wie kommen Sie denn auf Bangla Desh?
Kaiser: Ich hab ein bisschen im Internet gesurft, und da bin ich auf eine interessante internationale Umfrage gestoßen: Sind Sie glücklich? Und mit Ja haben am häufigsten die Menschen in Bangla Desh geantwortet, dicht gefolgt von den Dänen.
König: Was ist denn das für eine Kombination? Bangla Desh, eins der ärmsten Länder auf der Welt, und Dänemark, eins der reichsten – und beide sollen fast genauso glücklich sein? Das passt doch nicht zusammen.
Kaiser: Dann denken wir doch mal gemeinsam nach.
König: Also, bei den Dänen ist das ja nicht so schwer. Ein wohlhabendes Land, funktionierende Zivilgesellschaft, großzügiges soziales Netz und siebzig Jahre Frieden. Und dazu natürlich grüne Wiesen und die kleine Seejungfrau.
Kaiser: Die kleine Seejungfrau reißt’s raus, das ist klar. Aber warum die Bangladeshis so glücklich sind, das hab ich mich auch gefragt.
König: Offensichtlich macht Armut allein nicht unglücklich.
Kaiser: Aber glücklich?
König: Wahrscheinlich kommt es drauf an, was man vom Leben erwartet.
Kaiser: Viel können die nicht verlangen, wenn die glücklich sind. Wir haben doch neulich davon gesprochen, was für Zustände dort in den Textilfabriken herrschen.
König: Die spüren jetzt schon den Anstieg der Weltmeere und verlieren ihre Küsten. Dabei hatten die schon immer wenig Platz. Indien zieht zur Zeit einen Zaun an der Grenze zu Bangla Desh gegen die illegale Einwanderung. Indien!
Kaiser: Und Hochwasser. Zweimal im Jahr haben die Fische im Wohnzimmer.
König: Sie meinen, in der Einraumhütte mit Wellblechdach.
Kaiser: Also warum sind die glücklich?
König: Vielleicht weil man die Hütte leicht verschieben kann, wenn das Wasser kommt, im Gegensatz zur Flut in Dresden 2002.
Kaiser: Arbeit haben sie jedenfalls.
König: Ja, zu erbärmlichen Löhnen.
Kaiser: Und große Familien.
König: Familie macht viel aus. Und Frieden.
Kaiser: Wie die Dänen.
König: Oder wie die Deutschen. Wie hat übrigens Deutschland bei Ihrer Umfrage abgeschnitten?
Kaiser: Gutes Mittelfeld. Wie bei der PISA-Studie. Über die waren hier ja auch alle ziemlich unglücklich.
König: Obwohl ein guter Mittelplatz vielen ja schon reichen würde. Ich hab mal gelesen, dass im Sport die Gewinner von Silbermedaillen unglücklicher sind als jemand, der eine Bronze-medaille gewonnen hat. Der eine sieht, dass er Gold verfehlt hat, der andere ist froh, dass es überhaupt noch zu einer Medaille langt.
Kaiser: Sie meinen, wir sind Silber.
König: So sieht’s aus. Und wie viele Leute sind laut Ihrer Statistik bei uns in Deutschland glücklich?
Kaiser: Als glücklich oder sehr glücklich bezeichnen sich 28% der befragten Bevölkerung.
König: 28% ist blöd.
Kaiser: Wieso?
König: 28%, das heißt, Glück ist keine exotische Ausnahme, man kann es schaffen. Aber die meisten schaffen es dann doch nicht.
Kaiser: 72%. Eine Unglückszahl.
König: Eine echte Unglückszahl.

Hinweise

Der elfte und letzte Dialog scheint den Themenkreis der globalisierten Gesellschaft zu verlassen und hat es doch mit einer universalen Frage zu tun, die sich allerdings jeder für sich selbst vorlegen und beantworten muss: die nach dem Glück (happiness). Es ist der Aspekt, unter dem sich alle politischen, sozialen und ökonomischen Großwetterlagen je für den Einzelnen darstellen. Dabei steht es oft quer zu den messbaren Indices wie Wohlstand, Infrastruktur, sozialem Netz usw. Glück ist das Wichtigste überhaupt; aber es tendiert dazu, sich seiner Festlegung zu entziehen. Darum trägt dieses Gespräch Züge der Verwunderung und des Paradoxen.
König und Kaiser, sonst immer kontrovers gestimmt, unterziehen sich in diesem schwierigen Fall einer gemeinsamen kognitiven Anstrengung. Was hat es zu bedeuten, dass die Ärmsten (Bangla Desh, ein schon mehrfach erschienenes Motiv) und die Reichsten (Dänemark) gemeinsam den ersten Rang in der Liste der Glücklichen einnehmen? Dass die Dänen glücklich sind, erstaunt nicht, denn hier stimmen die äußeren Bedingungen. Bei den Bangladeshis aber stehen die ungünstigen absoluten Maßzahlen in auffälligem Gegensatz zur Empfindung, die sie begleitet. Es wird das Element des Relativen in der Erwartung betont.
In diesem Licht betrachten König und Kaiser, nicht ohne Ironie, die Situation auch in Deutschland. Das Land scheint unglücklicher, als nach seinen Voraussetzungen anzunehmen wäre. Auch für dieses »Jammern auf hohem Niveau« wird als Erklärung der je relevante Vergleichshorizont genannt (»Silbermedaille«). Die »Unglückszahl« von 72% bleibt zum Schluss unkommentiert als eine beunruhigende Größe stehen.

Leitfragen

  • Was heißt für Euch Glück? Was müsste da sein oder passieren, damit Ihr Euch als glücklich bezeichnen könntet?
  • Haltet Ihr Euch, so wie Ihr jetzt und hier lebt, für glücklich?
  • Glaubt Ihr, dass man durch systematische Befragung, wie sie bei Dänen, Deutschen und Bangladeshis stattgefunden hat, herausfinden kann, ob jemand glücklich ist? Wo könnten mögliche Fehlerquellen liegen?
  • Wie kommt es, dass gerade die Bangladeshis, denen es ja wirklich materiell nicht besonders gut geht, sich besonders oft als glücklich bezeichnen?
  • Warum scheinen die Deutschen unglücklicher zu sein als die Dänen?
  • Glaubt Ihr, dass es Leute gibt, die unter allen Umständen immer glücklich, oder immer unglücklich sind?
  • Bert Brecht hat geschrieben: »Drum renn nur nach dem Glück / Doch renne nicht zu sehr / Denn alle rennen nach dem Glück / Das Glück rennt hinterher.« Was meint er damit?

Links

Psychologie und Glück: Ergebnisse der Glücksforschung
Institut für europäische Glücksforschung

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Das Bild zeigt den Frachter »Vlora«, wie er am 8. August 1991 in Bari anlandet. An Bord befinden sich albanische Flüchtlinge, die kurze Zeit später wieder ausgewiesen wurden.

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